In der Serie „0711er der Woche“ stellen wir euch jeden Montag einen Stuttgarter vor, den man unter Umständen kennt – und doch nicht so recht kennt. Leute, die unsere Stadt durch ihr Schaffen bereichern, aber zu oft doch im Hintergrund bleiben. Menschen wie du und ich, die ihren Teil dazu beitragen, dass Stuttgart das ist, was es ist: unsere Stadt, die Mutterstadt. Nachdem wir mit dem jeweiligen 0711er etwas Zeit verbringen, verewigen sie sich in unserem 0711er Buch.
Christian Rottler macht auf vielen verschiedenen Ebenen Kunst. Er ist Musiker, Hörspielautor und Schriftsteller. Eine große lyrische Persönlichkeit ließ den Stuttgarter nicht mehr los. Seine Erfahrungen mit dem französischen Denker Marcel Proust waren für “den Rottler” so prägend, dass er sie letztes Jahr in einem Hörspiel verarbeitet hat.
Ein Text von Niko mit Fotos von Fynn
Verabredet hatten wir uns mit Chris im Brunnenwirt, der “legendärsten Kneipe Stuttgarts” (O-Ton Rottler), mitten im Rotlichtbezirk im Bohnenviertel. In Bad Cannstatt erblickte unser 0711er der Woche das Licht der Welt, aufgewachsen und zur Schule gegangen ist er in Ludwigsburg. Dort kam Christian Rottler das erste Mal mit Kunst in Berührung. Seine erste Band “H-Milk” gründete er mit 16 Jahren.
Im Jahr 1994 spielten die Jungs punkigen Grunge, inspiriert von Bands wie Nirvana. Schon am Anfang sei die Fancrowd größer gewesen, als sie das erwartet hatten, sagt der Rottler. “Dadurch, dass wir alle von verschiedenen Gymnasien kamen, hatten wir 400 Leute auf dem Konzert.” Ein Lächeln, ein Kopfschütteln, dann ergänzt der Musiker: “Es kam so ungefähr die halbe Mittelstufe von jedem Gymnasium, ich hatte selten so viel Publikum wie damals.“
Zu neuerem Punk- oder Indierock hat Chris eine gespaltene Meinung. “Klar haben Bands wie Green Day auch ihre Daseinsberechtigung”, sagt er. “Ich finde halt immer die Wurzeln eines Genres interessanter.” Also eher Talking Heads, The Smiths und The Cure? „Ja. Die nächsten 30 Jahre an relevanter Indie-Mukke kannst du dir anhand dieser Bands komplett erklären.“
Ich war schon immer ein fleißiger Leser!
Nach seinem Zivildienst im Obdachlosenwohnheim am Nordbahnhof arbeitete er als Nachtpförtner in derselben Einrichtung. Die Nachtschicht wurde von da an zur Lesestunde. An der Pforte schrieb er auch sein erstes Hörspiel, “Nahkampf oder Telefonieren”. Dieses brachte Rottler später in den SWR und live auf die Bühnen der Mutterstadt.
Von Stuttgart nach Weimar – und zurück
Als ihm das irgendwann nicht mehr reichte, ging er 2003 fürs Studium der Mediengestaltung nach Weimar. Musikalisch entwickelte sich Chris in dieser Zeit weiter. “Ich habe nur noch mit studierten Musikern in einer Band gespielt”, sagt er. Auf seiner neusten Schallplatte “Proust ist mein Leben” befindet sich ein Track, der sogar noch aus dieser Zeit stammt: “Schön, wenn man beim Ficken zu zweit ist”, heißt das Stück. Typisch Rottler.
In Weimar stand für Chris der musikalische Durchbruch kurz bevor. Er hatte einen Vorvertrag beim Label Pias aus Hamburg, bei dem unter anderem die Pixies oder Dinosaur JR. gesignt sind. “In dieser Zeit dachte ich echt, ich komm’ ganz groß raus”, sagt Chris, halb gelöst, weil am Ende doch alles gutging, doch auch ein bisschen nachdenklich. Leider wechselte der zuständige AR-Manager zu Sony und der Vertrag platzte.
Der Punk auf dem Amt
Hauptberuflich macht Chris mittlerweile bei einer Behörde in Stuttgart die Öffentlichkeitsarbeit. Moment mal, der frühere Punkrocker schreitet nun täglich durch die Ämter seiner Heimatstadt? Ja! Doch der Weg dahin war, wie könnte man sagen, kurios. Zuerst war er nach dem Studium und einem Zeitungsvolontariat als Gerichtsreporter im Landgericht Stuttgart unterwegs. Es kam eins zum anderen und er landete er in der Pressearbeit. “Ich hab’ ständig über Behörden geschrieben. Irgendwann bin ich bei ihnen gelandet”, grinst Chris. Sein heutiger Job macht ihm Spaß: “Früher als Gerichtsreporter hab’ ich aus 20 Prozent eines Themas, die nach außen gedrungen sind, eine Story zusammenschustern müssen. Heute bin ich der, der 100 Prozent davon weiß und daraus nur einen Bruchteil den Journalisten erzählen darf.”
Es ist hart, 40 bis 50 Stunden die Woche zu arbeiten und nebenher Kunst zu machen.
Sich nebenher immer mit Kunst zu beschäftigen, fordert seine Opfer. So manche Nacht in Chris’ Leben ging dafür schon drauf. “Es ist hart, 40 bis 50 Stunden die Woche zu arbeiten und nebenher Kunst zu machen”, sagt Chris. “Ich hab’ nach dem Studium probiert, es mit der Kunst allein zu schaffen, aber ich bin wohl ein zu ängstlicher Mensch. Ich brauch’ auch irgendwo meine Sicherheit.”
2006 schrieb Rottler einen Song mit dem Namen “Feuer”. Der Track schlug auf motorFM (heute fluxFM) so ein, dass es vom Chefredakteur zum “Lied des Jahres” gekürt wurde. Das Lied lief über 3.000 Mal im Jahr. Hätte motorFM damals keine GEMA-Pauschale, sondern richtige Tantiemen gezahlt, hätte Chris seinerzeit sicherlich keine Geldsorgen gehabt. Das Krasse daran: Schon seit ein paar Jahren zahlt der Sender die normalen Sätze an die GEMA: “Das ist schon so mein Lebenstraumata gewesen. Die Leute haben den Song ständig im Radio gehört und dachten, ich lebe in einem Loft. Aber Geld hab’ ich dafür kaum gesehen.”
„Jeder, der sich ernsthaft mit Literatur beschäftigt, landet irgendwann bei Marcel Proust“
In seinem neuesten Hörspiel “Proust ist mein Leben, aber es langweilt mich sehr” geht auch wegen dieser Erfahrung um viel mehr, als nur um den Lyriker Marcel Proust. “In diesem Projekt habe ich mein Scheitern als Künstler ganz offen dargelegt.” – Und damit wieder Kunst gemacht! Das Hörspiel erzählt die Geschichte, wie Rottler von einem Lyrik-Forscher nach Marcel Proust gefragt wird – obwohl er beim Lesen von Proust grandios gescheitert war. Der Forscher kannte aber seinen Song “Proust ist mein Leben” und kontaktierte ihn deshalb. Die wahre Geschichte könnt ihr hier nachhören.
Proust lesen heißt auch ein bisschen scheitern
Chris hat sein Hörspiel über Marcel Proust schon an den SWR, RBB und an DeutschlandradioKultur verkauft. “Das liegt einfach daran, dass jeder Kulturredakteur in Deutschland schon mal versucht hat Proust zu lesen. Und die sind fast alle so grandios gescheitert wie ich”, lacht Chris. Das Hörspiel ist im Grunde eine Einführung in das Werk von Proust: „Wenn du eine Germanistik-Studentin ins Bett kriegen willst, dann musst du das Hörspiel hören. Danach kannst du auf jeden Fall zehn Minuten über Proust philosophieren.”
Der Rottler ist Einer, mit dem man ewig im Brunnenwirt bei Bier und Zigarette versacken könnte. Aber jedes Interview hat leider nun mal ein Ende. Eine Frage bleibt aber noch: Hat Chris nun das ganze Werk von Marcel Proust gelesen? “Nein”, lacht er. “Nach drei Bänden war Schluss, dann bin ich zum zehnten und letzten gesprungen.”
Rottler, wir wünschen dir, dass du dich irgendwann mal durch Prousts Werk durchkämpfst. Und wenn nicht, scheiß drauf, mach wieder so ein tolles Projekt daraus!
NAME… Christian Rottler – ALTER… 38
HERKUNFT… Stuttgart // Bad-Cannstatt
WAS ICH SO MACHE… Hörspiele, Musik und all das, was zwangsläufig damit zusammenhängt
MEIN LIEBLINGSORT IN STUTTGART IST… Täglich ein anderer
GLÜCKLICH MACHEN KANN MAN MICH MIT… Abwechslung
MEIN PERFEKTES WOCHENENDE VERBRINGE ICH MIT… Partnerin, Freunden und Musik
ICH KANN NICHT OHNE… Schwarzer Krauser
DAS SOLLTE MAN GESEHEN HABEN … Eine Ausstellung von Daniel Richter
DAS MACHE ICH, WENN KEINER ZUSCHAUT… Alte Tagebücher lesen und dabei Platten von Prefab Sprout hören
ICH WÜRDE NIEMALS… den Konsens mit Nazis suchen
ICHLIEBE AN STUTTGART… Seine unbekannten Welten
ICH HASSE AN STUTTGART… Die Bräsigkeit vieler seiner Bewohner
WENN NICHT STUTTGART, DANN… Paris
DAS HABE ICH IMMER IM GEPÄCK… Schwarzer Krauser und ein gutes Buch
WENN ICH MORGENS AUFSTEHEN, MACHE ICH DAS IMMER ZUERST… Rauchen, Kaffeetrinken, Schweigen (alles gleichzeitig)
WENN ICH DIE FREIE WAHL HÄTTE, WÜRDE ICH HEUTE ABENDESSEN MIT … David Foster Wallace (tot) oder Jakob Augstein (lebendig)
UND ZWAR WO? … Im Brunnenwirt (im Restaurant, nicht im Imbiss)
STUTTGART, ICH WOLLTE DIR SCHON IMMER EINMAL SAGEN … Sozialer Wohnungsbau, Teilhabe für jeden und ein zeitgemäße Mobilitätskonzepte: Diese Themen hast du voll verballert.