In der Serie „0711er der Woche“ stellen wir euch jeden Montag einen Stuttgarter vor, den man unter Umständen kennt – und doch nicht so recht kennt. Leute, die unsere Stadt durch ihr Schaffen auf verschiedenste Art bereichern, aber oftmals doch im Hintergrund bleiben. Menschen wie du und ich, die ihren Teil dazu beitragen, dass Stuttgart das ist, was es ist: unsere Stadt, die Mutterstadt. Nachdem wir mit dem jeweiligen 0711er etwas Zeit verbringen, verewigen sie sich in unserem 0711er Buch.
Das Thema Nachhaltigkeit ließ ihn einfach nicht mehr los. Und so rief Martin Langlinderer frei nach dem Motto „Von Stuttgart aus die Welt verändern“ das gemeinnützige Projekt „HOBBYHIMMEL“ ins Leben. Auf rund 300 Quadratmetern hat unser 0711er der Woche mit seiner offenen Werkstatt in Feuerbach ein Kleinod zum Basteln, Tüfteln, Reparieren und Selbermachen geschaffen. Inmitten von Schraubendrehern, Sägen und Bohrern plauderten wir mit Martin darüber, warum es für ihn irgendwann kein “normales” Weitermachen mehr gab.
Ein Text von Maren mit Fotos von Saeed
Erst mal eins vorweg: Jede Stadt sollte einen Martin haben. Punkt. Die offene Werkstatt HOBBYHIMMEL hat erst kürzlich Einjähriges gefeiert (BTW: Herzlichen Glückwunsch, nachträglich!). Stolze 360 Tage lang hatte die für jedermann zugängliche Werkstatt bis dato geöffnet. Aktuell arbeitet unser 0711er an einem Open-Source-Projekt vom Fraunhofer-Institut. Dabei geht’s um Anlagen zur Arbeitserleichterung in Behindertenwerkstätten. Das Ziel: „Offenes Wissen aufbereiten und erstellen, damit Behindertenwerkstätten sich günstig und einfach Hilfsarbeitsplätze einrichten können“, erläutert Martin.
Studiert hat der gebürtige Esslinger ganz solide Wirtschaftsingenieurwesen. Und zwar in der Heimat. Es folgten diverse Jobs in der Region aber auch außerhalb vom „Schwabenländle“. „Ich hatte eine Zeit lang den Gedanken auszuwandern.“ Woanders ist das Gras schließlich grüner, ihr wisst schon. Durch seine Jobs sei er viel rumgekommen und auch privat sei er früher etwas gereist. Ein Jahr Amerika und Norddeutschland sowie sechs Monate Lateinamerika später, stellt er heute allerdings fest: „Wenn man es ganzheitlich betrachtet, dann würde ich sagen, dass es uns hier in der Region schon ziemlich gut geht.“ Grund genug, um der Mutterstadt treu zu bleiben.
Zuletzt hat der 36-Jährige bei einem technischen Vertrieb für Messtechnik gearbeitet. Nachdem er seine sowieso zeitlich befristete Projektarbeit dort unter Dach und Fach gebracht habe, nutzte er vor rund zweieinhalb Jahren die Gunst der Stunde und setzte sein eigenes Vorhaben in die Tat um: „Der Sinn hierbei ist dann doch deutlich größer gewesen für mich“, berichtet er.
Was für die Frau vielleicht der H&M ist, ist für mich der Baumarkt.
Stuttgarts erste offene Werkstatt
Wie das Leben oft so spielt, öffnete ihm ein Schlüsselerlebnis die Augen: Als er drauf und dran war, ein Geschenk für einen Freund zu bauen, haben ihm schlichtweg der Platz und das Werkzeug gefehlt. „Und dann habe ich verschiedene Sachen probiert“, schildert er. Das vermeintlich einfache Vorhaben, vier Bretter zurecht zu sägen, entpuppte sich als denkbar schwieriges Unterfangen: Das Ausleihen einer Kreissäge im Baumarkt scheiterte, weil die eine kaputt und die andere verliehen gewesen sei – sowieso erschien es ihm unsinnig, das 50 Kilo schwere Werkzeug von A nach B fahren zu müssen, um letztendlich fünf Minuten damit zu sägen. „Das macht ja keinen Sinn.“ Also wollte er die Dienste von Schreinern in Anspruch nehmen. Doch nach seinem Feierabend waren diese bereits in selbigen entschwunden – ein Teufelskreis. „Und dann dachte ich: Wieso gibt’s nichts, wo man einfach hingeht, nutzt was man braucht, zahlt und geht wieder?“ Seitdem habe ihn die Idee einer offenen Werkstatt nicht mehr losgelassen.
Wenn du im Stuttgarter Westen im dritten Stock nach Feierabend nach Hause kommst und dann anfängst die Säge anzuschmeißen, dann freuen sich die Nachbarn.
Je mehr er sich damit beschäftigt habe, umso deutlicher wurde ihm, welches Potenzial an Nutzern dort vor sich her schlummerte: Von Bastlern und Leuten, die nur mal eben was reparieren wollen, über Kleinunternehmer und junge Start-ups sei die Bandbreite riesig. „Und dann gab’s nur noch einen Weg“, verlautet Martin. Nun brauchte es nur noch ein ausgefeiltes Konzept. Dafür reiste er quer durch die Republik, schaute sich sämtliche offene Werkstätten an und sprach mit den Betreibern. Mit einer Vielzahl an Inspirationen und einem für sein Vorhaben optimierten Konzept im Gepäck kam er zurück. Für ihn sei von Anfang an klar gewesen, dass es als selbsttragendes Geschäftsmodell funktionieren solle, mit gemeinnützigem Charakter. „Mir geht’s in erster Linie nicht darum, dass ich Geld damit verdienen kann, sondern dass es das gibt.“ Derzeit arbeite er locker 90 bis 100 Stunden (!) in der Werkstatt – und das für lau. Um seinen Lebensunterhalt zu verdienen, habe er zusätzlich noch einen Nebenjob in der Gastro.
Wir haben ein sehr gutes Netzwerk an Leuten – vom Harzer bis zum Geschäftsführer ist hier alles dabei.
Der HOBBYHIMMEL bietet neben Maschinen und Werkzeugen, die jedes Handwerkerherz höher schlagen lassen auch ausreichend Platz, um die eigenen Ideen zu verwirklichen – Know-how und Hilfestellungen inklusive. Eine beachtliche Anzahl an helfenden Händen sei das Herzstück des Projekts und die Grundlage dafür, dass es als Non-Profit-Vorhaben funktioniere: So wurde die komplette Werkstatt durch freiwillige Helfer aufgebaut. „Der Gedanke hier ist, dass wir diese eine Werkstatt machen, schauen dass wir sie optimieren und das Konzept kostenlos an andere Leute weiter geben.“
Die Erfahrung auf der einen Seite und ein fundiertes Finanzierungskonzept auf der anderen Seite seien schon mal die halbe Miete. „Dann brauchst du quasi nur noch jemanden vor Ort, der sagt: ,Ich kann es umsetzen, aber ich hab’ weder die Ahnung noch das Geld.’“ So könne man relativ schnell mehrere offene Werkstätten aufbauen, führt Martin aus. Wenn sich das Projekt nach dem Prinzip eines Vereins selber trage und verwalte, wäre es denkbar, dass er irgendwann wieder wo anders arbeite. Dann könnte er z.B. vor Ort Starthilfe geben, wenn jemand irgendwo anders eine gemeinnützige Werkstatt aufmachen möchte. „Je mehr du davon hast und das jeweilige Know-how sauber vernetzt, desto leichter wird der Aufbau jeder weiteren Werkstatt.“
Ich sehe in Stuttgart in jedem Stadtteil das Potenzial für ‘ne offene Werkstatt. Übertragen auf Deutschlands Städte, gibt’s da noch ganz viel Potenzial.
Nachhaltige und gemeinnützige Beweggründe
Die Affinität fürs Werkeln und Tüfteln habe er von seinem Vater in die Wiege gelegt bekommen. „Der lebt auch nach der Devise: Alles selber machen und reparieren, bevor irgendwas neu gekauft wird.“ Mit dem Thema Nachhaltigkeit beschäftige er sich schon eine ganze Weile, erzählt Martin. So sei er beispielsweise bereits seit der ersten Sitzung des Repair Cafés im Stuttgarter Westen dabei gewesen. Als er dann aufgehört habe zu arbeiten, habe er sich sehr intensiv mit Wirtschaftsthemen, Nachhaltigkeit und Umweltproblemen auseinander gesetzt. „Das sind so ein paar Kennziffern, die gehen einem nicht mehr aus dem Kopf: Jede Sekunde landen 250kg Plastik im Meer. Wenn man sich das bildlich vorstellt, könnte man ausrasten. Deswegen gab es für mich irgendwann kein normales Weitermachen mehr.“ Sein Anliegen sei es, dass die Leute umdenken bei ihrem Konsum. „Dass sie unterscheiden zwischen: Was muss ich wirklich besitzen und was macht mehr Sinn gemeinschaftlich zu nutzen?“ Das sei am Anfang vielleicht unbequem, schone aber langfristig Ressourcen. Denn: „Wir leben über unsere Verhältnisse“, so der Impulsgeber.
Die Leute können hier lernen, dass sie selber mehr können, als nur mit ihren zwei Daumen auf dem Display rum zu tippen.
Den Spruch: „Von Stuttgart aus die Welt verändern“, der ursprünglich von einem Sticker des Restaurants „Körle und Adam“ stammt, habe er als Lebensmotto aufgegriffen. „Wir haben hier die Möglichkeit etwas aufzuziehen. Denn in Stuttgart gibt es genug Leute, die das cool finden und es gibt auch noch Nachholbedarf in nachhaltigen Themen.“ Gleichzeitig gäbe es aber auch die nötige wirtschaftliche Basis – eine Win-Win-Situation also.
Was bleibt da noch zu sagen? Eigentlich nur eins: Wir ziehen den Hut vor so viel Engagement und Selbstlosigkeit!
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NAME … Martin Langlinderer – ALTER … 36
HERKUNFT … Böblingen – STADTTEIL … Feuerbach
WAS ICH SO MACH’ … Anderen Menschen den größten HOBBYKELLER Stuttgarts zur Verfügung stellen
MEIN LIEBLINGSORT IN STUTTGART IST … Die offene Werkstatt
GLÜCKLICH MACHEN KANN MAN MICH MIT … Freizeit, vieeel
MEIN PERFEKTES WOCHENENDE VERBRINGE ICH MIT … Menschen, die mir wichtig sind und gerade wenig Zeit mit mir haben
ICH KANN NICHT OHNE … Große Pläne
DAS SOLLTE MAN GESEHEN HABEN … Die richtigen Dokus
DAS MACHE ICH, WENN KEINER ZUSCHAUT … Es schaut doch immer einer zu
ICH WÜRDE NIEMALS … Etwas unversucht lassen
ICH LIEBE AN STUTTGART … Die vielen tollen engagierten und hilfsbereiten Menschen
ICH HASSE AN STUTTGART … Straßenqualität + Verkehr + Baustellen, wobei hassen ist zu viel gesagt, ich sehe Verbesserungspotenzial
WENN NICHT STUTTGART, DANN … Am Wasser
DAS HABE ICH IMMER IM GEPÄCK … Gute Laune (ok, fast immer)
WENN ICH MORGENS AUFSTEHE, MACH ICH DAS IMMER ZUERST … Ins Bad gehen
SO KRIEGT MAN MICH RUM … Von Fall zu Fall verschieden… Spiel + Spaß + Vego
WENN ICH DIE FREIE WAHL HÄTTE, WÜRDE ICH HEUTE ABENDESSEN MIT … Meiner Freundin
UND ZWAR WO? … Körle und Adam
STUTTGART, ICH WOLLTE DIR SCHON IMMER EINMAL SAGEN … Du bist auf einem sehr guten Weg, weiter so!