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In der Serie „0711er der Woche“ stellen wir euch jeden Montag einen Stuttgarter vor, den man unter Umständen kennt – und doch nicht so recht kennt. Leute, die unsere Stadt durch ihr Schaffen auf verschiedenste Art bereichern, aber oftmals doch im Hintergrund bleiben. Menschen wie du und ich, die ihren Teil dazu beitragen, dass Stuttgart das ist, was es ist: unsere Stadt, die Mutterstadt. Nachdem wir mit dem jeweiligen 0711er etwas Zeit verbringen, verewigen sie sich in unserem 0711er Buch.


Als „Die Postkartenschreiberin“ textet sie sich gerade durch die Briefkästen der Republik: Sabine Rieker kann diesen Titel mit Fug und Recht in ihrer Vita als Berufsbezeichnung angeben. Tag für Tag hält sie ihre persönliche Gedankenwelt auf sorgfältig ausgewählten Karten fest. Bei ein, zwei Limos im Milliways erzählte uns die 30-jährige Wahlstuttgarterin par excellence, wie es dazu kam.

 Ein Text von Maren Wiesner mit Fotos von Felix Schwarz

Als Reaktion auf unsere Interview-Anfrage bekommen wir von Sabine eine liebevoll handbeschriebene Postkarte zugeschickt. Was klingt wie der Beginn eines französischen Arthaus-Films (und das ist nur im besten aller Sinne gemeint), ist die Geschichte der Postkartenschreiberin. Es braucht nicht lange, um zu erahnen, warum das ungewöhnliche Erfolgsmodell aufgeht.

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Ich hab‘ schon immer geschrieben, aber hauptsächlich für mich.

Im letzten Jahr habe sie über 1.750 Karten (!) beschrieben, resümiert unser 0711er der Woche. Ihr Daily Business sei ein Mix aus “inneren und äußeren Aufträgen”, wie sie es nennt. Also Abonnenten, die je nach Abmachung wöchentlich oder monatlich Post von ihr bekommen sowie Grußkarten, die sie einfach deshalb verschickt, weil es ihr ein persönliches Anliegen ist. Das kann ein „Danke“ an ein liebgewonnenes Café oder auch an Postkartenverlage sein, die für ihre Schreibgrundlagen sorgen. Dabei versuche sie sich so wenig wie möglich unter Druck zu setzen. Am besten läuft’s nämlich, wenn sie sich eine schöne Umgebung schafft. “Und wenn es nicht passt, dann lasse ich es auch.” Aufs Papier kommt stets, was der Postkartenscheriberin gerade im Kopf herum schwirrt. Zurück kommen die kuriosesten Reaktionen: Von schockiert bis hoch erfreut, bis zu Tränen gerührt. “Ich denke mir immer: ,Krass, was man damit alles auslösen kann.’”

Theoretisch müsste ich bis zum Lebensende nie wieder Karten kaufen, weil ich ständig welche geschenkt bekomme.

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Schreiben als Ausdrucksmittel

Sie könne sich noch erinnern, dass sie bereits als Kind Schriftstellerin werden wollte. Einerseits sei das klipp und klar gewesen, andererseits aber in ihrer Vorstellungskraft unerreichbar. “Es war in meiner Welt nicht existent, davon leben zu können. Ich hatte dieses Selbstvertrauen in mein Schreiben einfach nie.” Weil sie immer glaubte nur über das schreiben zu können, was sie selbst erlebt habe, sei sie nie eine Geschichtenschreiberin gewesen. Über ihr eigenes Leben zu schreiben fand sie wiederum lange Zeit sehr langweilig, offenbart Sabine. Trotzdem musste sie ihre Gedanken in irgendeiner Form festhalten. Also habe sie Tagebuch geschrieben.

Schreiben ist de facto mein Hauptausdrucksmittel, das ist wie ein Ventil. Wenn ich es nicht mache, dann staut sich ganz viel in mir an und dann drohe ich irgendwann zu platzen.

Ursprünglich kommt unser 0711er der Woche aus der Eifel. Dort sei sie am Rande eines 300-Seelen-Dorfs auf einem Bauernhof aufgewachsen. „Absolute Einöde“, erzählt sie. Ein einziges Haus sei in Sichtweite gewesen, ansonsten weit und breit nichts. „Einerseits Paradies, andererseits Hölle”, fährt sie fort. Nach dem Abi habe sie in Bonn Germanistik und Kunstgeschichte studiert. Was sie damit einmal anfangen wollte, stand aber noch in den Sternen. Um sich ihr Studium zu finanzieren, arbeitete sie nebenher für die Deutsche Physikalische Gesellschaft. “Mir hat der Kontrast immer sehr gefallen zwischen dem kopflastigen Studium und der praktischen Arbeit im Büro”, erläutert die 30-Jährige. Nach ihrem Abschluss blieb sie ihrem Arbeitgeber zunächst treu. Schließlich bot man ihr eine Stelle als Assistenz der Geschäftsführung an.

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Leben, um davon zu erzählen

Der Anstoß, etwas an ihrem Leben zu ändern, kam ihr während ihrer Segelausbildung, die sie am Ende ihres Studiums absolvierte. Einer der Teilnehmer stellte fest, dass ihr Job völlig konträr sei zu dem, was sie studiert hatte. Da hatte er recht! Sie erinnerte sich an die Texterschmiede Hamburg, in der man praxisorientiert zum Werbetexter ausbildet wird. Dafür hatte sie bis dato allerdings nie das nötige Kleingeld beisammen. „Dann hab‘ ich mich beworben, bin genommen worden, hab‘ meinen Job gekündigt und bin – total blauäugig – für ein Jahr in die Werbebranche eingetaucht.” Allerdings merkte sie schnell: “Kreativität auf Knopfdruck, das ist nichts für mich.”

Nach dem Abschluss ging’s also zurück nach Bonn und aus Mangel an Alternativen auch zurück zu den Physikern. Nach zwei weiteren Jahren war Sabine ein für alle Mal klar: So geht’s nicht weiter. Es folgte ein klassischer Selbstfindungsprozess. “Jetzt machst du nur noch das, was du wirklich willst”, sagte sie sich. In ihrem Bücherregal prangte ihr seit jeher die Autobiografie von Gabriel García Márquez mit dem bedeutungsvollen Titel “Leben, um davon zu erzählen” entgegen. Schlagartig wurde ihr bewusst: “Wenn ich mein Leben so langweilig finde, dass es nicht wert ist darüber zu berichten, sollte ich wohl mein Leben ändern und etwas erleben, worüber es sich zu schreiben lohnt.” Also kündigte sie ihren Job erneut und krempelte ihr Leben ordentlich um.

Mein Vorsatz beim Schreiben ist dabei selber so viel Freude wie möglich zu haben. In der Hoffnung, dass die Freude auch am anderen Ende ankommt.

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In dieser Übergangsphase half ihr das Postkartenschreiben dabei, ihren Alltag zu strukturieren. Zunächst schrieb sie Karten, um damit selbstgebastelte Adventskalender für Freunde zu vervollständigen. Schnell artete das Projekt aber aus und sie verbrachte manchmal ganze Tage in ihrem Bonner Stammcafé. So bekamen die Leute, die dort arbeiteten ebenso wie andere Gäste Wind von ihrer Leidenschaft. Also schrieb sie auch denen. Schließlich hieß es: “Mach mehr aus den Postkarten!“ Und: „Wir wollen ein Abo bei dir abschließen.” Der Café-Besitzer und ein befreundeter Künstler waren die ersten Auftragnehmer, aus denen in Windeseile mehr werden sollten. Es folgten einige Lesungen und verschiedene Kooperationen, z.B. mit der Segelschule, in der sie mittlerweile selbst Ausbildungskurse gibt. “So kommen alle Puzzleteile zusammen”, stellt die Frau der Feder fest.

StuttgART als Herzensstadt

Ein bisschen trotzt sie mit ihren handbeschriebenen Karten auch der Digitalisierung – quasi als eine Art der Entschleunigung. Da sie in einer „krass langsamen Welt aufgewachsen“ sei, in der kaum etwas passierte, ticken ihre Uhren eben auch etwas langsamer, als bei den meisten Menschen. “Mit der Hand zu schreiben ist einfach mein Tempo”, führt sie aus. Das Posten ihrer Karten auf Instagram und Facebook, habe den ganzen Prozess zwar beschleunigt. Vermutlich wäre die Entwicklung aber auch ohne diese Medien vonstatten gegangen, nur eben langsamer, überlegt Sabine.

Ich hab‘ schon immer Postkarten aus dem Alltag heraus geschrieben, nicht nur aus dem Urlaub.

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Beim ersten Besuch der Mutterstadt, hat es bei Sabine direkt gefunkt: “Im zehnten Schuljahr waren wir in Stuttgart auf Klassenfahrt und seitdem wollte ich hierher.” Nachdem sie Ende 2015 in den Kessel zog, ist sie von Tag eins an Stuttgarterin mit Leib und Seele. Ihre hohen Erwartungen wurden sogar noch übertroffen. Denn hier kommt alles zusammen, was dem Kreativkopf Freude bereitet: Treppensteigen (wirklich wahr), weite Aussichten, deftiges Essen, der schwäbische Dialekt und zahlreiche lauschige Cafés, sodass sie je nach Gemütsstand die passende Schreib-Umgebung wählen kann. “Es ist einfach meine Herzensstadt”, schwärmt Sabine. StuttgART, wie sie zu sagen pflegt, habe ihr außerdem einen extremen Aufschwung gegeben, weil hier ihre Facebook-Seite entstanden sei und sie sich getraut habe, ihre Schriftstücke zu veröffentlichen.

Und wie geht’s weiter? “Ich plane tatsächlich nicht so viel. Es entstehen Sachen, die ich mir selbst nie hätte erträumen lassen”, erwidert die Frohnatur.

Zuletzt wollen wir die Gelegenheit nutzen und den Spieß einmal umdrehen: Danke fürs Dasein, liebe Sabine! Für die vielen Aufmerksamkeiten und wunderbaren Worte, die du mit deinen Karten schon in die Welt hinaus geschickt hast <3

DIE POSTKARTENSCHREIBERIN @ FACEBOOK
DIE POSTKARTENSCHREIBERIN @ INSTAGRAM

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NAME … Sabine Rieker – ALTER … 30 

HERKUNFT … Rackenbach bei Meisburg (in der Eifel) – STADTTEIL … Vom Heuboden ins Heusteigviertel

WAS ICH SO MACH’ … Ich (be-)schreibe mich und mein Leben auf Postkarten.

MEIN LIEBLINGSORT IN STUTTGART IST … Da, wo ich im Moment bin (Anm. d. Red.: Im Bett ihrer „Villa Kunterbunt“).

GLÜCKLICH MACHEN KANN MAN MICH MIT … Karten, Kaffee & Kuchen

 MEIN PERFEKTES WOCHENENDE VERBRINGE ICH MIT … Mir & Menschen, die ich mag – wie jeden einzelnen Tag.

ICH KANN NICHT OHNE … Kontaktlinse oder Brille scharf sehen. Noch nicht…

 DAS SOLLTE MAN GESEHEN HABEN … Gonçalo Cruzinha, tanzend

DAS MACHE ICH, WENN KEINER ZUSCHAUT … Hm, es ist doch immer eine Person da (mind. ich), die zuschaut.

ICH WÜRDE NIEMALS … Anfangen aufzuhören & aufhören anzufangen.

ICH LIEBE AN STUTTGART … Seine Anziehungskraft auf mich, dank der sich mir Menschen & Möglichkeiten öffneten, von denen ich nicht zu träumen wagte.

 ICH HASSE AN STUTTGART …

WENN NICHT STUTTGART, DANN … StuttgART

DAS HABE ICH IMMER IM GEPÄCK … Ideen

WENN ICH MORGENS AUFSTEHE, MACH ICH DAS IMMER ZUERST … Freuen, (aufgewacht) zu sein.

SO KRIEGT MAN MICH RUM … Präsent sein

WENN ICH DIE FREIE WAHL HÄTTE, WÜRDE ICH HEUTE ABENDESSEN MIT … Dem Vater meiner Kinder / Opa / Pippi Langstrumpf

UND ZWAR WO? … Zuhause (bei der jeweiligen Person)

STUTTGART, ICH WOLLTE DIR SCHON IMMER EINMAL SAGEN … Danke fürs Dasein ganz allgemein & für den 0711blog im Besonderen (Anm. d. Red.: Das stammt wirklich nicht aus unserer Feder!)

Maren Wiesner
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