In der Serie „0711er der Woche“ stellen wir euch jeden Montag einen Stuttgarter vor, den man unter Umständen kennt – und doch nicht so recht kennt. Leute, die unsere Stadt durch ihr Schaffen auf verschiedenste Art bereichern, aber oftmals doch im Hintergrund bleiben. Menschen wie du und ich, die ihren Teil dazu beitragen, dass Stuttgart das ist, was es ist: unsere Stadt, die Mutterstadt. Nachdem wir mit dem jeweiligen 0711er etwas Zeit verbringen, verewigen sie sich in unserem 0711er Buch.
Karl-Heinz liebt Musik. Seit 34 Jahren führt er zusammen mit seiner Frau Brigitte seinen Plattenladen. Vom sogenannten Vinyl-Boom hält er nicht viel, ihm ging es immer nur um die Musik, nicht um den Tonträger an sich. Wir haben uns in seinem Laden am Marienplatz mit ihm und seiner Frau Brigitte unterhalten. Hier lest ihr Teil 1 unseres 0711er-Doppelpacks zu Ratzer Records!
Ein Text von Niko mit Fotos von Saeed
Plattenladenbesitzer ist für viele Musik-Liebhaber wohl der Traumberuf schlechthin. Wer aber selbst über 30 Jahre hinter dem Tresen steht, weiß, dass es auch echt „harte Zeiten“ gab. Seine Liebe zur Musik hat Karl-Heinz Ratzer aber nie verloren. Zum Glück: Sein Laden ist seit Jahrzehnten eine Institution in der Stuttgarter Musikwelt.
Schon auf dem Internat als Schüler lebte Karl-Heinz für zwei Leidenschaften: Fußball und Musik. „Die Leidenschaft für Musik war da, als ich zum ersten Mal 50 Pfennig in eine Music-Box für einen Song der Beatles gesteckt habe. Das war 1962.“ Auch Karl-Heinz war, wie Millionen junger Leute damals, fasziniert von der musikalischen Revolution der Beat-Musik. „Aber wir waren dumm: Dass Chuck Berry und Fats Domino eigentlich vorher kamen, haben wir als weiße Jungendliche in Deutschland nicht begriffen.“
Seine erste Band „Movement“ hatte unser 0711er der Woche als 14-Jähriger. Kurz vor dem Abi schmiss er alles hin mit dem Traum, Musiker zu werden. Mit seinen Bandkollegen gründete er eine WG, viel Party, typisch Musiker eben. Als dann der Erfolg mehr oder weniger ausblieb, bekam Karl-Heinz eine Stelle im Einzelhandel bei Govi, damals ein Plattenladen am kleinen Schlossplatz, spezialisiert auf Rock-Musik – also genau richtig für Karl-Heinz.
Nach kurzer Zeit bekam er einen Job als Filialleiter bei Govi in Offenbach angeboten. Dort hielt es ihn aber nicht mal ein Jahr. Warum? Ganz klar: „Hast du Offenbach mal gesehen? Das ist ja kein Vergleich mit Stuttgart. Da gibt es höchstens noch die Kickers Offenbach, und das will sich ja keiner freiwillig antun. Das Neckarstadion und der VfB sind immer die Nummer 1 gewesen.“
Schallplatten und Fußball, was will man mehr.
Irgendwann ging Govi in Stuttgart finanziell den Bach runter. „Damals kamen die ersten Media Märkte und andere Ketten auf, da waren wir als kleine Plattenladen-Kette irgendwann chancenlos.“ Karl-Heinz sollte in die Filiale nach Hamburg versetzt werden. Doch nochmal weg aus der Mutterstadt war für ihn nicht drin „Damals kannte ich meine Frau schon und wir haben überlegt, Hamburg? Nee, komm, da machen wir das lieber hier selber!“
Karl-Heinz fragte seine Chefs, ob er ihnen das komplette Inventar des Ladens abkaufen könnte. „Die Reaktion war nicht mehr als helles Entsetzen.“ Gut gemeinte Ratschläge, er solle sich die Zahlen und die rückläufige Kundschaft anschauen, brachten alle nichts. Karl-Heinz hatte sich für seinen eigenen Plattenladen in Stuttgart entschieden.
Mit Brigitte machte er sich auf die Suche nach einer neuen Location. Die beiden wurden in der Paulinenstraße fündig, das war 1984. Das erste was der Hausmeister sagte, als er hörte, dass ein Plattenladen im Haus aufmacht: „Oh Gott, do kommt koi Sau!“ Naja, der Hausmeister hatte Unrecht, wusste er Jahre später.
Ich wollte nicht mein ganzes Leben nur „The Dark Side of The Moon“ ausgraben und verkaufen.
Angefangen hatten die Ratzers mit drei Festangestellten und einer Aushilfe. Leider kam die generelle Krisenzeit für Vinyl-Läden dazwischen, durch billigere Angebote der Konkurrenz, verschiedenere Genres und neuartige Tonträgern wie die CD. „Da kamen dann solche Sachen wie Techno auf, aber da wollten wir irgendwie nicht mitmachen. Für uns war es immer die Rock- Musik.“
Die Ratzers verkleinerten ihr Geschäft um ein paar Meter weiter auf der Paulinenstraße in eine freie Ladenfläche. „Der Laden war toll, trotzdem war unser Traum immer, einen kleinen Club mit Live-Musik aufzumachen.“ Als 14 Jahre später im Leonardsviertel eine Fläche frei wurde, zogen sie erneut um. „Da hatten wir dann endlich Vinyl-Verkauf und Live-Musik. Auf Dauer hat sich das aber auch nicht rentiert, zu anstrengend, zu hohe Mieten. Deshalb sind wir hier am Marienplatz wieder zurück zum kleinen Laden mit Café und Getränken.“
Schon immer verkauft Ratzer Records fast nur Neuware und kein Second Hand Vinyl. Warum eigentlich? „Das war so ein Gentleman-Agreement mit Second Hand Records, das war ihr Ding, unser Ding war die Neuware und warum alte Sachen verkaufen? Das sind ja olle Scheiben, ich war immer neugierig auf neue Musik. Ich wollte nicht mein ganzes Leben nur ,The Dark Side of The Moon’ ausgraben und verkaufen.“
Karl-Heinz hält nicht viel vom Vinyl-Boom der jetzigen Hipster-Generation oder der Preisentwicklung, die Second Hand Scheiben oft hinlegen: „Technische Details wie Doppelcover oder Erstpressungen rechtfertigen doch keine 200 Euro für eine Platte? Mit geht es um die Musik und sonst um nichts? Investition in Platten als Geldanlage finde ich scheiße. Wenn ich mit Wertgegenständen handeln wollen würde, hätte ich Bänker werden sollen. Platte ist Emotion.“
Deshalb werden wir auch die ausgelutschteste Frage zum Vinyl, die es gibt nicht stellen: „Was ist das besondere an Vinyl?“ Karl-Heinz bedankt sich, diese Frage hat er in 34 Jahren Plattenladen schon oft genug gestellt bekommen.
Während unserem Gespräch fragt eine Kundin, ob sie eine Platte zum Probehören auspacken darf. Karl-Heinz springt vor dem Tresen hervor: „Nein! Du musst die Platte daheim in Ruhe hören, das kommt doch viel besser.“ Um die Songs probezuhören, gibt er ihr das Album auf CD.
Karl-Heinz wir freuen uns, dass du Stuttgart und dem Neckarstadion treu geblieben bist und mit Ratzer Records eine echte Institution in der Stadt geschaffen hast.
Nächste Woche stellen wir euch Karl-Heinz’ Frau Brigitte als 0711erin der Woche vor!
NAME … Karl-Heinz Ratzer – ALTER … 1954
HERKUNFT … Pforzheim STADTTEIL …Untertürkheim
WAS ICH SO MACHE … Arbeiten
MEIN LIEBLINGSORT IN STUTTGART IST …am Neckar
GLÜCKLICH MACHEN KANN MAN MICH MIT … Musik
MEIN PERFEKTES WOCHENENDE VERBRINGE ICH MIT … Brigitte
ICH KANN NICHT OHNE … Musik und Fußball
DAS SOLLTE MAN GESEHEN HABEN …Ein Sonnenaufgang auf dem Haleakala
DAS MACHE ICH, WENN KEINER ZUSCHAUT … laut Musik hören
ICH WÜRDE NIEMALS … in einen Verein eintreten
ICH LIEBE AN STUTTGART … Umgebung
ICH HASSE AN STUTTGART … Baustellen
WENN NICHT STUTTGART, DANN … Vancouver
DAS HABE ICH IMMER IM GEPÄCK … Feuerzeug
WENN ICH MORGENS AUFSTEHEN, MACHE ICH DAS IMMER ZUERST … Ein Marmeladenbrot
SO KRIEGT MAN MICH RUM … mit ner Roten vom Grill
WENN ICH DIE FREIE WAHL HÄTTE, WÜRDE ICH HEUTE ABENDESSEN MIT … Karl Marx
UND ZWAR WO? … Honolulu
STUTTGART, ICH WOLLTE DIR SCHON IMMER EINMAL SAGEN … langsam reicht`s