In der Serie „0711er der Woche“ stellen wir euch jeden Montag einen Stuttgarter vor, den man unter Umständen kennt – und doch nicht so recht kennt. Leute, die unsere Stadt durch ihr Schaffen auf verschiedenste Art bereichern, aber oftmals doch im Hintergrund bleiben. Menschen wie du und ich, die ihren Teil dazu beitragen, dass Stuttgart das ist, was es ist: unsere Stadt, die Mutterstadt. Nachdem wir mit dem jeweiligen 0711er etwas Zeit verbringen, verewigen sie sich in unserem 0711er Buch.
Letzte Woche haben wir an dieser Stelle mit Patricia Söltl die eine Hälfte des Dream-Teams der Facebook-Plattform „Refugees, welcome to Stuttgart“ vorgestellt. Weiter geht es mit Karin Braig. Die Stuttgarterin bereichert die Initiativen dieser Stadt seit eh und je mit ihrem ehrenamtlichen Engagement. In Teil zwei unseres Doppelpacks kommt zum Vorschein, warum sich die beiden so gut ergänzen, obwohl bzw. gerade weil sie so unterschiedlich sind.
Ein Text von Maren mit Fotos von Saeed
Karin und Patricia haben sich vor geraumer Zeit über ihr Engagement bei Die Stadtisten kennen gelernt (by the way: deren Mitbegründer Putte stellten wir bereits hier vor). Für einen Nachmittag, an dem Patricia Flüchtlingskinder zu einer Zaubervorstellung begleiten wollte, suchte sie noch Unterstützung. Karin meldete sich und von diesem Zeitpunkt an machten sie immer mehr zusammen. Schnell merkten sie: „Wir haben eine gute Ebene zusammen, das passt“. Als Patricia die Idee mit der Facebook-Seite ausgefeilt habe, sei sie direkt auf Karin zugekommen. „Ich wusste eigentlich nicht, was mich erwartet, bin aber auf den Zug aufgesprungen“, erzählt unsere 0711erin.
Zwei wie Ying und Yang
Jetzt mal Hand aufs Herz, fallen wir mit der Tür ins Haus: Wie würdet ihr euch gegenseitig beschreiben? „Erst dachte ich, Patricia wäre eine Herausforderung für mich, aber eigentlich bedingt es sich gegenseitig. Wir sind beide eine Herausforderung füreinander“, stellt Karin fest. Sie sei eher bedacht und Patricia sehr quirlig. Insofern sei das die ideale Kombination aus „es geht rund“ und „lass uns noch mal drauf gucken“, erläutert sie schmunzelnd. Patricia bringt es kurz und schmerzlos auf den Punkt: „Jedes Fahrzeug braucht eine Bremse und einen Motor, da ergänzen wir uns super. Ich würde wahrscheinlich gegen die nächste Wand fahren ohne Bremse. Und du würdest nicht so wirklich von der Stelle kommen“, haut sie lachend raus.
Das Eis wäre hiermit schon mal gebrochen und wir springen über zu den Fakten. Karin ist fest in Stuttgart verwurzelt: Sie ist in der Mutterstadt geboren, aufgewachsen und hat hier studiert. Nach dem Abi fiel ihre Wahl zunächst auf die Naturwissenschaften und sie begann Chemie zu studieren. Doch nach einem Praktikum in einer Werkstatt für behinderte Menschen wurde ihr bewusst: „Das ist es!“. Also schwenkte sie zu Soziale Arbeit um und fand darin ihre eigentliche Berufung. Seitdem habe sie als Sozialarbeiterin in vielen verschiedenen Bereichen und Einrichtungen gearbeitet. Die längste Zeit sei sie als Leiterin einer Kita tätig gewesen. Aber auch im Beratungsbereich habe sie viele Erfahrungen gesammelt und sich mit einer Familientherapeutischen Ausbildung zusätzlich qualifiziert. Vor rund zehn Jahren habe sie sich schließlich von dem Angestelltenverhältnis verabschiedet und arbeitet seitdem freiberuflich als Beraterin. Zudem habe sie einen Lehrauftrag an der dualen Hochschule.
Wenn ich Lust und Zeit hab, kann ich sagen: ,Ich hänge mich jetzt mal zwei, drei Stunden am Tag in ein neues Thema rein.‘
Engagement mit Herz und Seele
Aber auch über die Arbeit hinaus engagierte sich die Sozialarbeiterin von jeher aus tiefster Überzeugung. Durch ihre flexible Arbeit könne sie sich Freiräume für die ehrenamtliche Tätigkeit schaffen. Trotzdem nehme die Facebook-Seite „Refugees, welcome to Stuttgart“ mehr Zeit in Anspruch, als sie es je für möglich gehalten hätte. Doch sie sehe das als Chance und lese sich in neue Themen ein, wenn sie mal mit Fragestellungen konfrontiert werde, von denen sie keinen Schimmer habe. Durch dieses Engagement, habe sich eine weitere Tür geöffnet. So gebe sie heute Fortbildungen im Flüchtlingsbereich.
Mit ihrer Facebook-Plattform wollten sie zwar von Anfang an Geflüchtete ansprechen, aber es sei nicht ihre oberste Priorität gewesen. Es habe sich dann zunehmend so entwickelt, dass die Leute sie selbst ansprechen. So stehen sie mit vielen Leuten seit Anbeginn in Kontakt. „Eine schöne Begleiterscheinung, mit der wir gar nicht gerechnet haben“, bemerkt Karin. Besonders freut sie die Entwicklung, die sich seit der Gründung der Seite im November 2014 abzeichnet: Viele Geflüchtete seien in der Lage, ihre Bedürfnisse zu artikulieren, das sei der erste Schritt in Richtung Integration. Vor allem sind Karin und Patricia darauf bedacht, dass persönliche Kontakte zustande kommen. Das mache den großen Unterschied zu anonymen Kleiderkammern beispielsweise.
Das Schöne ist die Entwicklung: Erst sucht jemand ein Fahrrad, dann einen Job.
Im Vergleich zum anfänglich großen Ansturm auf die Seite, haben sich die Wogen wieder geglättet. Jetzt gebe es weniger, dafür aber sehr konkrete Suchen, wie Praktika, Jobs und Nachhilfe . „Man merkt, dass die Leute schon angekommen sind.“ Ihr Bestreben ist es, verstärkt den Frauen zu mehr Selbstständigkeit zu verhelfen. Es laufe eben vieles über die Männer, schildert Karin. Vor allem Frauen mit kleinen Kindern stünden in Punkto Teilhabe noch etwas außen vor, weil sie Schwierigkeiten mit der Kinderbetreuung haben und dadurch nicht an Sprachkursen teilnehmen könnten. Aber unterm Strich kann es so weiter gehen und man sollte auch die kleinen Schritte würdigen können, findet Karin.
Unser übergeordnetes Ziel ist, dass gegenseitige Kontakte entstehen. Wir wünschen uns, dass sich die Leute hier so einleben, dass sie ein Teil der Stadt werden.
Nicht verzagen, Facebook fragen
Facebook sei für ihr Vorhaben die ideale Plattform: Die individuellen Gesuche können ganz präzise mit dem vorhandenen Angebot verknüpft werden und das innerhalb von kürzester Zeit. Außerdem benutzen das soziale Netzwerk ausgesprochen viele geflüchtete Menschen. Am Anfang ziehen die meisten noch Übersetzungsprogramme heran, aber nichts desto trotz können sie schon mal kommunizieren. Das Schreiben ermögliche es, sehr persönliche Kontakte aufzubauen und biete gleichzeitig die nötige Distanz. Einige teilen ihnen – hinter dem Deckmantel der Anonymität der Seite – sogar ihre grausamen Erlebnisse der Flucht mit, um sich den Ballast einmal vom Herzen zu schreiben, berichtet Karin.
REFUGEES, WELCOME TO STUTTGART @ FACEBOOK
Die Kommunikation auf Facebook geht wahnsinnig schnell und ist so aufeinander bezogen – das schafft keine Website.
„Die Resonanz der Stuttgarter ist wirklich erstaunlich“, findet Karin. Sie sei immer wieder verblüfft, dass die Netzgemeinde selbst für schwierige Anfragen eine Lösung findet. Insgesamt gäbe es viele tolle Projekte und Initiativen für die Neuankommenden. Kein Wunder dass oft die Rückmeldung kommt: „Ich war schon in anderen Städten, aber in Stuttgart fühle ich mich einfach wohl.“
Danke für dein unermüdliches Engagement, Karin! Du trägst einen erheblichen Teil dazu bei, dass die Willkommenskultur in Stuttgart derart gelebt wird.
NAME … Karin Braig – ALTER … 50 + 84 Monate
HERKUNFT … Stuttgart – STADTTEIL … Bad Cannstatt
WAS ICH SO MACH’ … Lesen, schwimmen, Gartenarbeit, nachdenken
MEIN LIEBLINGSORT IN STUTTGART IST … Das Teehaus
GLÜCKLICH MACHEN KANN MAN MICH MIT … Einer Massage
MEIN PERFEKTES WOCHENENDE VERBRINGE ICH MIT … Meinem Mann
ICH KANN NICHT OHNE … Kaffee. Oder vielleicht doch?
DAS MACHE ICH, WENN KEINER ZUSCHAUT … Rumlümmeln und vor mich hin träumen.
ICH WÜRDE NIEMALS … In einem Bierzelt auf dem Tisch tanzen.
ICH LIEBE AN STUTTGART … Die vielen schönen Aussichtspunkte.
ICH HASSE AN STUTTGART … Den Verkehr und unpünktliche S-Bahnen.
WENN NICHT STUTTGART, DANN … Südfrankreich
DAS HABE ICH IMMER IM GEPÄCK … Einen Keks, wenn mich der kleine Hunger überfällt.
WENN ICH MORGENS AUFSTEHE, MACH ICH DAS IMMER ZUERST … Kaffee trinken und Zeitung lesen.
SO KRIEGT MAN MICH RUM … Zu was? :- )
WENN ICH DIE FREIE WAHL HÄTTE, WÜRDE ICH HEUTE ABENDESSEN MIT … Mit Menschen, mit welchen ich tolle Gespräche führen und lachen kann. Wenn Robert Redford ein solcher Mensch wäre, dann auch mit ihm.
STUTTGART, ICH WOLLTE DIR SCHON IMMER EINMAL SAGEN … Hier leben ganz tolle, aktive Menschen!