In der Serie „0711er“ stellen wir euch Stuttgarter vor, die man unter Umständen kennt – und doch nicht so recht kennt. Leute, die unsere Stadt durch ihr Schaffen bereichern, aber oftmals doch im Hintergrund bleiben. Menschen wie du und ich, die ihren Teil dazu beitragen, dass Stuttgart das ist, was es ist: unsere Stadt, die Mutterstadt.


Eleni Zafiriadou und Daniel Benjamin stehen nicht nur als Indie-Pop-Duo SEA+AIR zusammen auf der Bühne, sondern sind auch privat „Sie und Er“. Live versetzen die Tausendsassa ihr Publikum ins Staunen, indem sie bis zu fünf Instrumente gleichzeitig spielen. Seit Kurzem lassen sie es auch mit ihrer Punkband Jumbo Jet wieder ordentlich krachen. Während es in Teil 1 um die zauberhafte Eleni ging, heißt es jetzt „Bühne frei“ für Vollblutmusiker und Hobby-Comedian Daniel! 

Ein Text von Maren mit Fotos von Saeed

Schon als kleiner Bengel kritzelte Daniel als Traumberuf “Musiker” in die Poesiealben seiner Klassenkameraden. Damals wollte er noch „Dirigent eines hundert Millionen tausendköpfigen Orchesters“ werden. Und tatsächlich schien er schon früh den Rhythmus im Blut gehabt zu haben: Eine seiner ersten Erinnerungen sei, dass er Geräusche gemacht habe. Auf Trommeln, Flöten, Klavieren und in Form von sonstigen Lauten. Was den Kindergarten und die Grundschule betreffe, könne er sich nur daran erinnern, entweder Leute gemobbt zu haben, gemobbt zu werden oder, na klar, Geräusche gemacht zu haben.

In der siebten Klasse setzte er seinem Mathelehrer  vorausahnend darüber in Kenntnis: „So Herr Schittenhelm, das war‘s jetzt. Ich brauch‘ das nicht, ich werde Rockstar!“ In der elften habe er schließlich einen dieser Aufkleber gesehen mit dem Slogan „Stell dir vor es ist Krieg und keiner geht hin“. Daniels logische Schlussfolgerung: „Da hab’ ich mir vorgestellt es ist Schule und bin nicht mehr hingegangen.“

Der Startschuss für Daniels Solokarriere fiel 2003. Zunächst produzierte er einige EPs im Eigenvertrieb. 2006 brachte er schließlich sein Album „Daniel Benjamin“ beim deutschen Indie-Label Haldern Pop Recordings raus und ging damit auf Tour. Bis 2009 war er  Schlagzeuger bei der Punkband Jumbo Jet, Seite an Seite mit seiner besseren Hälfte Eleni. Der Knoten platzte schließlich, während die beiden als Support Act für Whitney Houstons Europatour gemeinsam auf der Bühne standen: Die Reaktion des Publikums zeigte, dass sie es als Duo schafften mit ihrer Musik eine breite Masse zu berühren. Aus Daniel Benjamin wurde 2011 folglich SEA+AIR. Ihr erstes Album „My Heart´s Sick Chord“ haben sie einem Instrument gewidmet, das völlig zu Unrecht etwas in Vergessenheit geraten ist: Dem Cembalo.

SEA+AIR tourten bereits als Support für namhafte Künstler wie Sufjan Stevens, The White Stripes, Jose Gonzalez und und und. Ihr Geheimrezept? „Wir haben uns gegenseitig an der Hand gehalten, wenn einer nicht mehr konnte und ein bisschen gezogen.“ Das Schöne am Touren sei, dass man in einer Art Blase lebe, findet der passionierte Schlagzeuger. Man denke nur an morgen, ähnlich wie beim Wandern. Das Bewegen von A nach B und die essentiellen Fragen des Lebens rücken wieder in den Vordergrund: Wo bekomme ich etwas zu essen her, wo schlafe ich, wo kann ich mich waschen? Das könne sehr beruhigend sein, wenn es nicht so stressig wäre, bekennt Daniel.

Seinen Hut zieht der Vollblutmusiker – der sich nach eigenen Angaben noch immer fühlt, als wäre er im Teeniealter steckengeblieben – vor jedem, der sein eigenes Ding durchzieht. Und dabei keine Angst habe, Leute auch mal etwas vor den Kopf zu stoßen: Von Igor Stravinsky über Erich Kästner bis zu Kate Bush und DJ Shadow. Auch in ihrer Musik spielen sie mit Extremen und hinterfragen gerne stereotypische Geschlechterrollen. So sorgen sie für Verwirrung, indem bei dem ein oder anderen Stück erst beim genauen Hinhören klar wird, dass die vermeintlich feminine Stimme in Wahrheit von Daniel kommt und vice versa.

Auch Daniel ist ein echter Naturbursche! Am Meer spazieren und die gerade gehörte Musik nachklingen lassen, lösen bei ihm wahrhaftige Glücksgefühle aus. Was er schon immer mal machen wollte? Von Deutschland nach Griechenland laufen. Und bei den Bauern Musik gegen Kost und Logis eintauschen, so wie einst der argentinische Folklore-Musiker Atahualpa Yupanqui. Unser 0711er weiß die Abgeschiedenheit als ablenkungsfreien Ort zu schätzen: „Nur weiße Seiten kann man beschreiben“, führt er aus.

Neben dem Touren und dem Leben in der Provinz dienen Ausflüge nach Stuttgart als willkommene Abwechslung. Ein perfekter Tag in der Mutterstadt sehe für Daniel so aus, verkündet er mit gespielter Ernsthaftigkeit: Erstmal der Staatsgalerie einen Besuch abstatten, dann auf einen Abstecher ins Staatstheater, anschließend geht’s ins staatliche Plattencafé Ratzer und danach zu den ,Aliens’ in die Mall, um sich seiner eigenen mentalen Gesundheit zu vergewissern. „Und dann wird mit dem dicken Cabrio standesgemäß auf der Theo ,rumproletet’.” Zum Abschluss darf für ihn die obligatorische Pizza nicht fehlen, um am Ende des Tages pünktlich mit den letzten Sonnenstrahlen ins Bett zu fallen. Word!

Seine Zukunftspläne? „Rumexperimentieren.“ Und natürlich die neue SEA+AIR Platte. „Da wird was auf euch zukommen“, gibt er schmunzelnd preis. Schade sei nur, dass gerade keiner Alben höre. Vielleicht warten sie deshalb noch ein wenig, bis sich das wieder ändert. Und dann gibt es da ja noch Bandprojekt Nummer zwei: Die Nachfrage nach einem Revival von Jumbo Jet war so groß, dass sie es noch einmal alle zusammen auf die Bühne wagten. Die Punkband sei die vollkommenste Band, in der sie je gespielt haben. „So eine richtige ,Band-Band’, wo jeder gebraucht wird. Ohne die einzelnen Zutaten wäre sie anders und nicht mehr einzigartig.“ So etwas gebe es heutzutage kaum mehr, weil alles nur noch Projekte seien. Und da die Energie noch immer präsent sei, als wären sie nie von der Bildfläche verschwunden, werden sie wohl vorerst weitermachen.

Es war uns ein Fest, lieber Daniel! Wir sind gespannt mit welchen „Experimenten“ du noch ums Eck kommst und freuen uns schon wie Bolle auf euer neues Album, das wir mit Vergnügen rauf und runter hören werden – Ehrenwort! 

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NAME… Daniel BenjaminALTER… Twentysomething

HERKUNFT… EuropaWOHNORT… Europa

WAS ICH SO MACH’ … Interviewfragen beantworten. Wie früher als man ins Poesiealbum bei Mitschülern schreiben durfte.

MEIN LIEBLINGSORT IN STUTTGART IST … Pizza.

GLÜCKLICH MACHEN KANN MAN MICH MIT … Immer wenn jemand unsere Musik RICHTIG anhört (20 bis 30 Mal die Platte durch, richtige Reihenfolge und nicht als Hintergrundgeräusch). Dann bin ich schon glücklich!

MEIN PERFEKTES WOCHENENDE VERBRINGE ICH MIT … Bei wem die Woche nicht anfängt, kann sie auch nicht enden.

ICH KANN NICHT OHNE … Zuneigung

DAS SOLLTE MAN GESEHEN HABEN … Seinfeld

DAS MACHE ICH, WENN KEINER ZUSCHAUT … Von anderen Tellern Pizza klauen.

ICH WÜRDE NIEMALS … Von anderen Tellern Pizza klauen.

ICH LIEBE AN STUTTGART … Das ART im Namen, das ist künstlerisch total befruchtend. Hahahahahahaaaaa.

ICH HASSE AN STUTTGART … Dass es keine Stuten mehr im Garten gibt.

WENN NICHT STUTTGART, DANN … Ich hab‘ nur einmal in Stuttgart übernachtet. Als Zehnjähriger bei Tante Magdalene. Daher kann ich das nicht beantworten.

DAS HABE ICH IMMER IM GEPÄCK … Meinen MARS-Award.

WENN ICH MORGENS AUFSTEHE, MACH ICH DAS IMMER ZUERST … Gucken, ob die Sonne auch schon wach ist.

SO KRIEGT MAN MICH RUM … Ritter Sport Rum.

WENN ICH DIE FREIE WAHL HÄTTE, WÜRDE ICH HEUTE ABENDESSEN MIT … Bono. Und sagen: ,Nicht so schlimm mit deinen Paradise Papers, ich hab‘ auch schon mindestens 300 Mal in Stuttgart geparkt ohne ‘nen Parkschein rauszulassen. Der Mensch ist halt von Grund auf böse.’

UND ZWAR WO? … Südfrankreich. In seinem Ferienhaus.

WELCHEN STUTTGARTER WÜRDEST DU GERNE MAL KENNENLERNEN? … Den Wüstenfuchs.

STUTTGART, ICH WOLLTE DIR SCHON IMMER EINMAL SAGEN … Dass deine krankhafte Angst vor Vetterleswirtschaft nervt.


DOPPELPACK TEIL 1

0711ER – TEIL 1: Eleni Zafiriadou (SEA+AIR)

Maren Wiesner
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