Eigentlich schlägt Marcels Herz für den 1. FC Kaiserslautern. Doch als Schwabe und Stuttgart-Resident spielte der VfB Stuttgart für ihn schon immer Champions League. Und Saeed, der schwankte als gebürtiger Iraner lange zwischen dem BVB, von dem er als Zehnjähriger mal ein Trikot bekam, und dem VfB, zwischen süßen Kindheits-Erinnerungen und seiner zweiten Heimat 0711. Als die Bundesligisten in der letzten Saison dann aufeinander trafen, bekannte er sich zum württembergischen Traditionsvereins. Und doch: Um unsere letzten Zweifel ins Abseits zu stellen, haben wir einen Blick hinter den Brustring ins dunkelrote Herz des VfB Stuttgart gewagt und uns gefragt: Wie ticken die beim VfB eigentlich? – Bei einer Stadiontour durch die Mercedes-Benz Arena.
Ein Beitrag von Marcel Schlegel mit Fotos von Saeed Kakavand
Unser Rundgang durch die Mercedes-Benz Arena beginnt vor Stahlgittern. Sicherheitskontrolle. Saftey first. Was sein muss, muss eben sein. Da ist die DFL genau. Hinter den Eisentoren wartet Sebastian bereits auf uns. Sebi, wie wir den jungen blonden Mann nennen dürfen, wird uns in den folgenden Stunden bis zum Anpfiff der Bundesliga-Partie zwischen dem VfB Stuttgart und dem 1. FC Nürnberg durchs ehemalige Gottlieb-Daimler-Stadion führen.
Ronaldo geht leer aus
Sebi trägt eine Weste, sein Brustring ist schwarz. „Arena Guide“ steht darauf. Er spricht von den Ultras in der Cannstatter Kurve, von schwäbischen Fans, die ihrem VfB auch nach dem Zweitliga-Abstieg in der Saison 2015/16 konsequent treu geblieben sind. Die Fankultur ist in Cannstatt allgegenwärtig, das spürt man schon Stunden vor dem Anpfiff.
Noch schließen die Platzwarte einzelne Löcher im Rasen, noch werden hinter den Kulissen die Bierfässer ins Stadion gerollt und die Bratwürste angeliefert. Vereinzelt hört man die Rufe kickender Kids von den diversen Trainingsplätzen, die das Stadion-Gelände umranden. Die Ruhe vor dem Sturm. Später werden an diesem kalten Montagabend gut 42 000 Fans in die Mercedes-Benz Arena strömen.
Sebi führt uns durch die Geschichte des württembergischen Traditionsvereins. Die Gänge in den Katakomben zeugen von der erfolgreichen Historie des VfB, des Deutschen Meisters von 1985, 1992 und 2007. Zwischen dem dunkelroten Streifen an der weißen Wand, der den markanten Stuttgarter Brustring symbolisiert, hängen Fotos von VfB-Legenden. Ich erkenne Balakov, Bobic, Elber – das magische Dreieck. Dazwischen signierte Trikots von Fußballgrößen, die mit ihren Clubs einst im Stuttgarter Stadion aufgeschlagen haben, etwa das ManU-Trikot von Cristiano Ronaldo. „Der war zwei Mal hier – und hat beide Spiele verloren“, sagt Sebi und grinst. Im Foyer der edlen Soccer Lounge hängen große Fahnen, Zeugen vergangener Erfolge. Bald schon soll hier der Wimpel des künftigen Zweitliga-Meisters hängen, hoffen sie beim Tabellenzweiten. So ist Fußball, mal geht es auf, mal ab.
Ein weiß-rotes Meer
Sebastian kennt beide Seiten des Profifußballs: den soliden Fan, der selbst bei Minustemperaturen wie heute in der Kurve friert, fiebert, leidet und jubelt. Doch er weiß auch um die Vorurteile der Ultras gegenüber den Loungenbesitzer. Auch das gehöre eben dazu, sagt er. Das sei es doch, was diese polarisierenden Kulturerscheinung auszeichne, sagt er: dass jeder eine Leidenschaft dafür entwickeln könne. Nun stehen wir inmitten der Cannstatter Kurve. Noch sind die Ränge leer.
Zwei Stunden später wird sich die Kurve zu einem weiß-roten homogenen Meer verwandeln. Hier, wo das “Commando Cannstatt” steht, komme man als Teilzeit-Fan nicht so einfach rein. „Die Plätze gehören den Stammkartenbesitzern, teilweise seit Jahrzehnten”, erzählt unser Guide. Sebi meint auch jene paar Hundert VfB-ler, die ihren Verein auch zu den Auswärtsspielen begleiten – egal, ob Samstagnachmittag oder Montagabend. Egal, ob München oder Aue. Die Liebe zum VfB kennt kein Datum, aber jede Autobahn der Fußball-Republik.
Fußballschauen am Pissoir
Und beim VfB wissen sie, wie wichtig dieser harte Kern für den Verein ist. Als das Stadion vor ein paar Jahren umgebaut wurde, setzten die Cannstatter die Wünsche ihrer Anhänger direkt um, zum Beispiel haben sie eine kleine Stadionkneipe in die Katakomben integriert, in der die Fans auch Stunden nach dem Spiel noch über Sieg und Niederlage diskutieren können. Auch die kleine Scheibenfront über dem Pissoir war ein Wunsch der eingefleischten VfB-Anhänger. Wenn während des Spiels also mal die Blase drückt, kann der Zuschauer das Austreten mit dem Fußballschauen verbinden – für einen Fan zählt schließlich jede Minute.
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Sebastian zeigt uns die Mixed-Zone, danach die Empore, auf der die Trainer ihre Pressekonferenz abhalten. Saeed gibt der fotografierenden Menge eine kleine Einweisung in die Kunst des Fußballs. „Wir müssen Tore schießen“, sagt er. So ist es. Den Job des iranischen Nationaltrainers dürfte er sicher haben. Spaß beiseite, man kann sich schon vorstellen, wie das sein muss, wenn ein Trainer nach einer schallenden Ohrfeige die stechenden Fragen der Journalisten beantworten muss. Über 100 Medienverantwortliche seien es an manchen Spieltagen, berichtet Sebastian. Bei einem Sieg wie an diesem Montag, an dem der VfB die Nürnberger mit einer 1:3-Niederlage nach Hause schicken wird, gehen einem die Antworten sicher lockerer über die Lippen.
Ein Aschenbecher und jede Menge Trikots
Wir gehen weiter in die Umkleidekabine der Schiedsrichter, in der jeder der vier Unparteiischen einen eigenen Duschraum hat. Der spätere Spielball steht auf einem Aschenbecher-Sockel. Bodenständig und sympathisch, denke ich mir – als Raucher und Fußballfan. Sebastian führt uns nun in die „Umkleide“ der Spieler. Trikots, Aufwärmshirts, mehrere paar Schuhe liegen vor dem Spint des jeweiligen VfB-Kicker – alles fein säuberlich sortiert. Nichts wird dem Zufall überlassen, die Spieler sollen sich auf das Wesentliche konzentrieren: den Fußball. Auch deshalb sind hier Medienverantwortliche tabu.
Ich suche meine Nummer. Mist, die haben mich wieder vergessen. Wenn die von meinem C-Jugend-Probetraining bei den Stuttgarter Kickers vor gefühlt 20 Jahren wüssten. Ein Libero wie einst Andy Brehme war ich mal. Okay, ich schweife ab. Aber Fußballnostalgie spielt auch in den Katakomben der Mercedes-Benz Arena eine bedeutende Rolle. Hier paart sich Moderne mit Tradition, hier trifft Vision auf Vergangenes – Dekaden von Fußballgeschichte.
Durch einen schmalen Gang führt ein überdachter Weg schließlich hinaus auf den Rasen. Als die Arena vom klassischen Stadion mit Tartanbahn zur reinen Fußballarena umgebaut wurde, musste die Tribüne sprichwörtlich näher an das Feld rücken. Der Rasen wurde dafür gesenkt. Daher führt der Gang hinaus in die Arena leicht abwärts. Was muss das Adrenalin mit einem anstellen, wenn man als Spieler aus der Stille der Katakomben plötzlich in diese tobende Arena schreitet – schon vor noch leeren Rängen fühlt sich das wahnsinnig beeindruckend an.
Firlefanz am Spielfeldrand
Wir machen Fotos am Spielfeldrand, Saeed mimt den Sport 1-Experten, wir üben die ein oder andere Trainergeste ein und selbst das Pfeifen mit drei Fingern hatte Saeed am Ende des Abends drauf. Keine halbe Stunde später kommt das Pfeifen dann von den Rängen. Die Nürnberger laufen ein. Kurz darauf stehen schließlich die VfB-Profis auf dem Rasen der Mercedes-Benz Arena. Am Ende schlägt Stuttgart den Club aus Nürnberg. Die Spieler verabschieden sich von ihren Fans in der Kurve. Siege sind halt doch am schönsten.
Wer sich fragt, was König Fußball so faszinierend macht, der muss einfach mal ins Stadion gehen, so platt das klingen mag. Wenn man gemeinsam mit Zehntausenden auf der Tribüne steht, wenn die Ultras die Cannstatter Kurve zur Mauer machen und zig Tausende ihre elf Mann unten auf dem Rasen lauthals zum Heimsieg schreien, ist das ein Erlebnis, das mit Worten kaum zu beschreiben ist. Eines, das mobilisiert und in Treue zu seinem Verein mündet. Eine Leidenschaft, die keine Liga kennt. Und Menschen wie Sebastian verkörpern diese Liebe – vom Profi auf dem Feld bis zum Zeugwart hinter den Kulissen. Der Brustring dunkelrot. Das Credo: Furchtlos und treu.